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Freitag, August 25, 2006

Würde bewahren

Vor langer Zeit habe ich mal eine Kolumne zum Thema "Fremd-schämen" gelesen. Das umfasst für mich sowohl das Schämen im klassischen Sinn, nachdem man etwas peinliches oder schlechtes gemacht hat. Aber auch Situationen, in denen sich Menschen komplett unter ihrem Preis verkaufen. So tief drunter, dass es bei mir Beklommenheit auslöst. Dass ich stumm schreie "bitte tu das nicht, bewahr doch wenigstens deinen Stolz!" Manche Menschein scheinen aber gar keinen Stolz zu haben. Wenn sie etwas möchten, ackern sie solange bis ich aus Mitleid nachgebe. Damit sie wenigstens ein letztes kleines Stück Haltung bewahren.

Mein Freund Mike ist so ein Typ. Er ist mustergültig durchtrainiert, sieht super aus und ist eine Intelligenzbestie. An ihm ist kein schlechtes Haar. Er zieht Fettnäpfchen magischer an als ich. Ist man mit ihm unterwegs, muss man ständig auf eine riesen-Pleite vorbereitet sein. Seine Palette ist breit - reicht von völlig unangebrachten Sprüchen über Darbietung seiner verletzten Gefühle auf dem Silbertablett zu katastrophalem Autofahren.
Kürzlich waren wir an einem Fest, Mike hungrig. Er bestellte sich an einem Schoggi-Früchte-Stand einen Apfel. Zur nicht gerade dünnen Verkäuferin hinter der Theke sagte er: ich darf keine Schoggi essen, sonst werde ich noch feiss.
Als ich ihm später klarzumachen versuchte, dass es wie purer Hohn klingt, wenn er sowas zu einer dicken Person sagt, tat es ihm so leid dass ich hätte schreien können. Er war die Niedergeschlagenheit in Person, ein Hundeblick ist machomässig gegen den Anblick den Mike in solchen Momenten bietet.
Bin ich bei ihm im Auto, halte ich es wie auf der Achterbahn: ich schliesse meine Augen und suche nach Indizien die, abgesehen davon dass ich in Mike's Auto sitze, sonst noch darauf hinweisen, dass meine Zeit gekommen ist.

Gleichzeitig bewundere ich die Unbeschwertheit, mit der Mike durchs Leben geht. Diese kindliche Unschuld, die an Naivität grenzt. Niemals würde er etwas Böses tun, oft gerät er mit seiner Art ins Kreuzfeuer der Kritik. Dann gibts jeweils einen Ausbruch, und weiter gehts im gleichen Takt wie zuvor. Wie ein EKG, das durch Ausschläge nach oben wie nach unten wieder ausgeglichen wird. Ich muss sturzbetrunken sein, um selbst solche Ausschläge zu verursachen. Dann aber ist nichts mehr von meiner Beherrschtheit und Kontrolle spürbar. Dann werde ich wie Mike. Oder schlimmer. Deshalb lass ich meine Finger vom Alkohol. Wenn ich nüchtern bin kann ich Tiefschlägen besser entgegnen, ihnen ausweichen. Denn ich nehme sie zwar besser auf als Mike, kann sie aber nicht im geringsten so gut verarbeiten wie er.